Kernenergie Gabor Steingart und die vergessenen Fakten
Zuletzt aktualisiert am 8. November 2021 durch Jürgen Voskuhl
Vor wenigen Tagen hat Gabor Steingart seine Meinung zum Thema Kernenergie verbreitet.
Ich habe mir Steingarts Beitrag durchgelesen und liefere hier einige wichtige, ergänzende Tatsachen. Damit sich dann jeder nach Kenntnis ALLER Fakten eine eigene Meinung bilden kann.
Aufgrund aktueller Geschehnisse habe ich diesen Artikel im Oktober 2021 und im November 2021 aktualisiert.
Es war schon beeindruckend: Am 7. August tut Gabor Steingart in seinem Newsletter seine Meinung zum Thema Kernenergie kund. Taggleich erscheint der Beitrag auch auf Focus und auf finanzen100.de. Hinzu kommt - ebenfalls taggleich - noch ein Podcast mit Frau Dr. Anna Veronika Wendland, Vorstandsmitglied von Nuklearia e.V.
Das muss man fast schon als „mediales Großereignis“ bezeichnen, Chapeau!
Gestählt durch seine Tätigkeiten bei der Wirtschaftswoche, dem Spiegel und dem Handelsblatt darf man das aber wohl auch von einem Medienprofi wie Steingart (der übrigens auch öfter für Henryk M. Broders „Die Achse des Guten“ schreibt) erwarten.
Nur eine Meinung
Aber es ist, was es ist: die persönliche Meinung einer einzelnen Person! Das wird auch von Focus und finanzen100.de als solches gekennzeichnet („Gastbeitrag“).
Nun haben wir aber unlängst von der Deutschen Welle gelernt, dass solche Meinungsbeiträge nicht umfassend und auch nicht „wahrheitsgetreu“ sein müssen. Also Grund genug, sich Gabor Steingarts Beitrag daraufhin mal genau anzuschauen.
Die ganze Wahrheit
Bekanntlich fängt ein Beitrag immer mit einem Titel an. Da lesen wir: „Renaissance der Kernenergie: Planungen für AKW laufen weltweit - vor allem in China“. Das klingt so gar nicht nach Meinung, sondern nach einem absolutistischen Statement, eher wie eine Tatsache. Aber ist es eine? Ich komme später darauf zurück, versprochen.
Der Begriff „Renaissance“ ist hier offensichtlich im Sinne von „erneutes Aufleben, neue Blüte“ gemeint, wie es im Duden beschieben ist.
Neue Blüte? Ein Wochenbericht des DIW Berlin (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) aus dem März des Jahres (vgl. ) kommt zum völlig entgegengesetzten Ergebnis: Das Abstract des DIW beginnt mit dem Satz „Atomkraft spielt in der globalen Primärenergieversorgung mit 4,4 Prozent eine geringe und rückläufige Rolle“. Rückläufig?? Wie bitte kommt es zu diesem Dissenz?
Die Frage beantwortet uns das DIW gleich im nächsten Satz: „Der aktuelle Kraftwerkspark ist überaltert, ca. 200 Abschaltungen im kommenden Jahrzehnt stehen lediglich 46 Neubauprojekte gegenüber.“
200 Abschaltungen „vergessen“?
Wie jetzt? Hat Gabor Steingart diese bevorstehenden 200 Abschaltungen einfach „vergessen“?
Tatsächlich ist in seinem gesamten Meinungsbeitrag an keiner Stelle von Abschaltungen die Rede. Es geht immer nur darum, welches Land wie viele Kernkraftwerke plant/baut/wieder in Betrieb nimmt.
Wie kann einem Profi so etwas passieren? Die Kognitionspsychologie kennt den Begriff des „Confirmation Bias“, zu Deutsch „Bestätigungsfehler“. Im Grunde geht es darum, dass Menschen dazu neigen, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigenen Erwartungen bestätigen. Sehr oft passiert dies unbewusst. Aber genau das kann ich mir bei einem viele Jahre als Journalist tätigen Profi wie Gabor Steingart beim besten Willen nicht vorstellen!
Was leider einzig und allein den Schluss zulässt, dass er diese Information vorsätzlich weglässt, um ein bestimmtes Narrativ zu vermitteln. Diese Vorgehensweise wird auch als „Cherry-picking” bezeichnet: Es werden nur Belege angeführt, welche das gewünschte Narrativ stützen. Andere Belege, die gegen das Narrativ sprechen, werden bewusst weggelassen. Übrigens eine der klassischen Methoden, die auch bei Klimawandelskeptikern beliebt ist.
Lassen Sie uns das aber wohlwollend zunächst nur als ein Indiz betrachten. Also als Begründung für einen Anfangsverdacht. Schauen wir doch einfach gemeinsam den Rest seines Beitrags an, um herauszufinden, ob wir da noch weitere Anhaltspunkte finden. Also Anhaltspunkte für die Einflussnahme auf den Meinungsbildungsprozess des Lesers, beispielsweise durch Weglassen von Informationen.
Steingart geht zunächst auf einzelne Länder ein. Wenn Sie jetzt noch den Begriff „weltweit“ aus seinem Titel im Hinterkopf haben und deshalb wegen der potenziellen Länge dieses Artikels besorgt sind: Entspannen Sie sich! Steingarts Liste ist nämlich sehr überschaubar: er erwähnt ganze fünf Länder, wovon vier bereits seit längerem über Kernkraftwerke verfügen. Wir schauen bei vier der fünf Länder etwas genauer hin.
44 neue Reaktoren in China?
Auf statista.com kann man lesen, das China 44 neue Reaktoren plant. Diese Zahl verwendet auch Herr Steingart in seinem Beitrag.
Zur Einordnung dieser und weiterer aus China stammender Angaben zum Thema schreibt die Außenwirtschaftsagentur der Bundesrepublik Deutschland, GTAI, in einem Branchenbericht: „Allerdings liegt chinesischen Medien zufolge eine Reihe von im Aufbau befindlichen Projekten zeitmäßig weit hinter und budgetmäßig über dem Plan. Vor diesem Hintergrund gilt das selbstgesteckte Ziel von Atomstromkapazitäten in Höhe von 58 GW bis 2020 als unrealistisch“ - für mich allemal Grund genug, ein Fragezeichen hinter die Abschnittsüberschrift zu setzen!
Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens auch eine Tabelle aus dem gleichen Branchenbericht:
Was man auf Anhieb erkennt: mit einem Anteil von 4,2 Prozent der gesamten Stromerzeugung hat Kernenergie in China eine untergeordnete Bedeutung.
Der Anteil an erneuerbaren Energien beträgt inzwischen mehr als ein Viertel und ist damit mehr als sechsmal so hoch!
Götterdämmerung im Nahen Osten?
Hier schreibt Steingart vom „anbrechenden Zeitalter der Atomenergie“. Im DIW-Report heißt es dazu jedoch nüchtern-sachlich:
„Die Regierung der VAE bestellte 2009 von dem südkoreanischen Unternehmen Korean Electric Power Corporation (KEPCO) vier Reaktoren mit einer Leistung von 5,4 Gigawatt (GW) ... Anfang des Jahres 2020 ist kein Reaktor am Netz, jedoch sollen alle vier Reaktoren bis 2023 am Netz sein. In der Langfristplanung der VAE für 2050 ist Atomkraft für sechs Prozent der Stromversorgung vorgesehen, sodass nicht mit dem Bau eines weiteren Atomkraftwerks zu rechnen ist.“
Wir können also festhalten: Die VAE haben kürzlich eines von vier Kraftwerken in Betrieb genommen, die sie bereits vor 11(!) Jahren bestellt haben. Über diese vier Kraftwerke hinaus wird es in dem Land absehbar keine weiteren Kernkraftwerke geben.
Bezogen auf die VAE kann man also gewiss nicht von einem „Anbrechen des Zeitalters der Atomenergie“ sprechen.
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Die Kraft der Suggestion
Zu Großbritannien ist in Gabor Steingarts Beitrag folgender Satz zu lesen:
„15 dieser sogenannten Small Nuclear Reactors sollen in den kommenden neun Jahren ans Netz gehen“.
Klingt ganz so, als ob da in den kommenden neun Jahren jedes Jahr der eine oder andere Reaktor ans Netz geht, nicht wahr? Das ist aber ganz sicher nicht der Fall! Ein Beitrag in der Welt, der sich eingehend mit der Thematik auseinandersetzt kommt nämlich zu folgendem Schluss: „frühestens ab 2029 dürften die Reaktoren von der Stange fertig zur Auslieferung sein“.
In den kommenden neun Jahren passiert also erstmal - gar nix!
Frankreich, Frankreich
Steingart weist darauf hin, dass sich in Frankreich „in Relation zur Einwohnerzahl so viele betriebsfähige Reaktoren wie in keinem anderen Land auf der Welt befinden“. Das ist soweit richtig - jedenfalls im Moment!
Was er (wiederum vermutlich bewusst!) weglässt, ist eines der in diesem Zusammenhang nicht unwichtigen Worte „noch“ oder „heute“: Frankreich wird bis 2035 vierzehn seiner 58 in Betrieb befindlichen Reaktoren abschalten! Das Land will damit den Atomstromanteil an seiner gesamten Stromerzeugung von derzeit 75 auf 50 Prozent senken.
Und danach? Dazu hat sich unlängst Frankreichs Energieministerin Barbara Pompili geäußert: „Heute schauen wir uns andere Reaktoren an, die gebaut werden könnten. Aber wir suchen auch nach einer Lösung, bei der wir 100 % erneuerbare Energie hätten.“.
In Frankreich ist die Zukunft der Kernenergie also ungewiss. Der Begriff „Renaissance“ erscheint mir auch hier völlig unangebracht.
Rochade statt Renaissance
Am Ende seines Beitrags kommt Gabor Steingart auf den Podcast mit Frau Dr. Anna Veronika Wendland, Vorstandmitglied von Nuklearia e.V., zu sprechen. Dr. Wendland hat gemeinsam mit Rainer Moormann im vergangenen Monat ein Memorandum verfasst, in dem es vor allem um eine Laufzeit-Verlängerung der verbliebenen sechs dt. Kernkraftwerke um zehn Jahre geht - zu Gunsten einer zügigen Abschaltung der meisten Braunkohle-Kraftwerke.
Frau Dr. Wendland fordert nirgendwo (also weder im Podcast noch im von ihr mit verfassten Memorandum) eine Renaissance der Kernkraft.
Fazit
Ich stelle fest: Gabor Steingart hat eine sehr eigenwillige Auffassung von einer Renaissance, die absolut nichts mit der Realität zu tun hat. Bei den meisten der von ihm angeführten Beispiele hat er bewusst wesentliche Informationen weggelassen, auf die er im Rahmen seiner sicher sorgfältigen Recherche sehr wahrscheinlich ebenso gestoßen ist wie ich: Der Mann ist schließlich kein Dilettant!
In den von ihm genannten Ländern hat Atomenergie eine geringe Bedeutung, es erfolgt entweder überhaupt kein weiterer Ausbau oder dessen Zeithorizont ist unklar. In einem Fall werden in den nächsten fünfzehn Jahren sogar eine zweistellige Zahl Atomkraftwerke abgeschaltet und kein einziger Neubau begonnen.
Ob die in seinem Titel von Steingart behauptete „Renaissance der Kernkraft“ tatsächlich eine ist, mag sich an dieser Stelle jeder Leser selbst beantworten.
Warum?
Bleibt noch die Frage, wieso ein solch eklatanter Unterschied zwischen Steingarts Meinung und der Realität entstehen kann. Eine mögliche Erklärung: Seine ganze Aktion ist Teil einer FUD-Kampagne (FUD = Fear, Uncertainty, Doubt, vgl. „Meinungsmache“) der Atomlobby (Nuklearia e.V., Energiewirtschaft, World Nuclear Association, o. Ä.), um Atomkraft wieder ins Spiel zu bringen.
Das ist aber lediglich meine persönliche Meinung zu Steingarts Beitrag – und wie gesagt, nur eine von sicher vielen möglichen Erklärungen (auch wenn mir gerade keine andere einfällt).
Update Oktober 2021
Er hat es wieder getan! Gabor Steingart hat sich erneut zum Thema geäußert, diesmal unter der Überschrift „Atomausstieg war Riesenfehler: Deutschland muss neue Debatte zur Kernenergie führen“. Und „natürlich wieder auf FocusOnline und in finanzen100.
Als „Ergebnis des deutschen Atomausstiegs“ nennt Steingart drei Punkte:
- Der deutsche Energiemix wird schmutziger, weil Kohle und Gas und nicht Sonne und Wind die Kernenergie ersetzen. Deutschland wird nach dem vollendeten Atomausstieg rund 70 Millionen Tonnen klimaschädliches CO2 zusätzlich ausstoßen.
- Der Staat muss den Energiekonzernen 2,43 Milliarden Euro als Entschädigung zahlen.
- Deutschland wird immer stärker zum Energieimporteur und muss nun den Atomstrom der Franzosen und das Gas aus Russland für teures Geld einführen.
Wer sich intensiv mit dem Thema Energiewende beschäftigt, weiß natürlich, dass der schmutzigere Energiemix und der bevorstehende „Importzwang“ vor allem mit der Vollbremsung beim Ausbau regenerativer Energien durch die GroKo zusammenhängt. Beispiele sind der Zwang, als Besitzer einer Photovoltaikanlage ein Gewerbe anmelden zu müssen, die extreme Absenkung der Einspeisevergütung („Altmaier-Knick“, beziehungsweise „Sigmar-Senke“) bei Photovoltaik-Anlagen in 2012 und 2014, ein Mieterstrom- und Energiewirtschaftsgesetz, welches den Stromhandel zwischen Mieter und Vermieter oder in Wohnungseigentümergemeinschaften erschwert und Abstandsregelungen und Ausschreibungspflicht bei Windenergieanlagen.
Natürlich hat die Regierung hier falsch gehandelt! Im Ergebnis wurden 130.000 Arbeitsplätze vernichtet. Schwerer wiegt aber der daraus resultierende und somit unnötige Ausstoß von Treibhausgasen und anderen giftigen Stoffen. Man kann da durchaus von vorsätzlicher Tötung reden.
Zum Thema Entschädigungszahlungen wäre anzumerken, dass beim ersten Atomausstieg (also die im Jahr 2000 getroffene Vereinbarung der damaligen rot-grünen Bundesregierung mit den vier deutschen Kernkraftwerksbetreibern, die deutschen Kernkraftwerke nach dem Erzeugen bestimmter Strommengen abzuschalten) überhaupt keine Entschädigungszahlungen angefallen wären.
Update November 2021
Aufgrund einer Äußerung des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner ist davon auszugehen, dass sich die Debatte über eine Laufzeitverlängerung für Deutschland nunmehr endgültig erledigt hat. Siehe dazu auch meine ausführliche Meldung im eeMag.
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